DIE GRUNDLAGEN DER FREIHEIT – Gemeinwohlyoga und Selbststeuerung
veröffentlicht im Deutschen Yoga-Forum Heft 3, Juni 2017
„Ein fallender Baum ist lauter
als ein wachsender Wald.“
(Tibetisches Sprichwort)
Die Mauern im Kopf
„Tear down this wall!“ Diesen berühmten Satz von Ronald Reagan richten die Dresdener Sinfoniker an dessen Präsidentschaftsnachfolger Donald Trump. Gemeinsam mit mexikanischen und US-amerikanischen Musikern werden sie am 3.Juni 2017 auf beiden Seiten der Grenze zwischen Mexiko und den USA ein Konzert geben. Damit wollen sie ein Signal setzen gegen Abgrenzung, Fanatismus und Nationalismus, gegen die geplante Mauer zwischen den USA und Mexiko und gegen die Mauern im Kopf.-
Es gibt viele Beispiele, wie die Mauern im Kopf überwunden werden können. Nicht nur in spontanen Aktionen, wie zum Beispiel die zahlreichen Fußball-Fans des BVB aus Dortmund, die die Anhänger der gegnerischen Mannschaft aus Monaco zu sich nach Hause eingeladen haben, nachdem das geplante Champions-League Spiel wegen des Bombenanschlags auf den Mannschaftsbus des Dortmunder Teams erst am nächsten Tag stattfinden konnte, oder der „safety check“ bei Facebook, sondern auch das Engagement vieler Menschen in langfristig angelegter Arbeit. Sie alle sind Ausdruck einer globalen Zivilgesellschaft, die sich für eine menschlichere Welt, für das Gemeinwohl einsetzen.
„Ich bin der andere, der andere ist ich – diese einfache Feststellung ist der Motor des zivilgesellschaftlichen Aufstandes“, antwortete Jean Ziegler, Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates in einem Interview auf die Frage, wie die Zivilgesellschaft die reichen Staaten davon überzeugen kann, ihren humanitären Verpflichtungen angesichts von Hunger und Not in der Welt nachzukommen. Auch wenn ich einen Aufstand im revolutionären Sinne zur Zeit nicht erkennen kann, stimme ich Ziegler in seiner Grundthese zu. Es sind die vielen einzelnen Menschen, die sich für das Wohl anderer Menschen engagieren und nicht nur ihren eigenen Vorteil im Kopf haben, die etwas bewegen, die den Wald wachsen lassen.
GemeinwohlYoga ist das Bewusstwerden von Verbindung
Viele Yoga-Lehrenden unterrichten einen Yoga, der die Teilnehmenden zu sich selbst führt und ihnen erlebbar macht, dass wir alle miteinander verbunden sind. „Tat Tvam Asi – Das bist Du“, diese berühmte Verkündigung aus der Chandogya-Upanishad, wies schon vor 2500 Jahren den Weg zur Befreiung aus den Verstrickungen unseres Geistes und aus unserer Hartherzigkeit.
Auch in der Katha-Upanishad III 3-6 aus dem 5.Jahrhundert v.Chr., wurde Yoga als Verbindung verstanden. Hier finden wir für Yoga die Metapher des Wagenlenkers. Unser göttlicher Wesenskern wird als Herr des Wagens und unser Körper als Wagen beschrieben, das Gewahrsein ist der Wagenlenker und das Denken sind die Zügel. Die Sinne und Begierden vergleicht man mit den Pferden und die Sinnesobjekte sind ihre Bahn. Wer aber Denken und Fühlen verbunden hat, wer also achtsam und sich seiner Situation gewahr ist, dessen Sinne sind gefügig wie gute Pferde ihrem Lenker.
Verbindung geschieht also auf verschiedenen Ebenen: Verbindung mit sich selbst, seinem Körper und mit dem ureigensten göttlichen Wesenskern, Verbindung mit allen Menschen und mit allen Lebewesen in der Welt. Also: eine tiefe Verbindung mit allen Energieformen.
Es geht also darum, möglichst präsent, wach und offen für das zu sein, was mir im Alltag begegnet und wie man darauf reagiert. Das bedeutet ebenso, sich die Folgen seines Handelns so weit wie möglich klar zu machen und Verantwortung dafür zu übernehmen. In diesem Sinn ist GemeinwohlYoga keine neue Marke, sondern betont die Verbindung als Grundlage der Befreiung, die den tiefen spirituellen Sinn des Yoga ausmacht.
Für manche Menschen scheint das Bild des Wagenlenkers eingefroren, statisch zu sein. Der Wagen rast aber durch die Welt, er steht nicht still. Wir müssen uns den Herausforderungen unserer Lebensumstände stellen. Wir müssen die Folgen unseres Lebensstils erkennen und die Verantwortung dafür übernehmen, anstatt die Augen vor den Folgen in der Welt zu verschließen und beispielsweise die Grenzen um Europa herum dicht zu machen. Unsere äußere Freiheit wird nicht am Hindukusch verteidigt, sondern in der Auseinandersetzung mit den Bänkern in Frankfurt und den Politikern in Berlin und Brüssel. Der fortschreitende Prozess der Globalisierung zeigt uns auf wirtschaftlicher Ebene, wie wir alle miteinander verbunden sind – hier leider oft nur in seiner pervertierten Form als gegenseitige Konkurrenten. Die innere Freiheit wird errungen durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten.
Trotzdem leben wir noch immer in der Vorstellung, wir seien eigenständige, voneinander getrennte Wesen. „Ich denke, also bin ich“, begründete der französische Philosoph Descartes im 17.Jahrhundert die eigene Erkenntnisfähigkeit. Dabei vergaß er nicht nur, dass wir auch und vor allem fühlende Wesen sind. Vor allem unterstellte er ein Denken, das getrennt von anderen Gehirnen denkt und nahm an, dass das einen Menschen als eigenständiges Wesen ausmacht.
Neurobiologisch ist das Selbst- und Weltbild Descartes heute eindeutig widerlegt.
Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass unser Gehirn ein soziales Produkt ist. Der Neurobiologe Gerald Hüther nennt es ein ‚Sozialorgan‘ und schreibt aus entwicklungsbezogener Perspektive davon, „dass menschliche Gehirne Organe sind, die ausschließlich in einem Netzwerk von anderen Gehirnen überlebens- und entwicklungsfähig sind. Gehirne kommen deshalb strenggenommen im Singular gar nicht vor“. Gehirne entwickeln sich durch Lernprozesse, in denen Energiewellen verarbeitet werden, die wir ‚Informationen‘ nennen.
Als Baby und als Kleinkind vollziehen wir unbewusst diese Lernprozesse, wenn wir uns aus der Symbiose mit der Mutter lösen und unsere Persönlichkeit entwickeln. Ein Denken, das sich getrennt von anderen Menschen erlebt, steckt noch in diesem Ablösungsprozess. Erst wenn wir ein stabiles Ich ausgebildet haben, das gelernt hat sich selbst zu kontrollieren und das auf Reize auch mit Aufschub oder gar Verzicht reagieren kann, ist die Voraussetzung für den nächsten Entwicklungsschritt gegeben. Dann können wir erkennen, dass wir alle miteinander verbunden sind.
Wir alle haben das Potenzial dazu, diese wechselseitigen Verbindungen aller Lebewesen und aller Energieformen bewusst zu erleben und unser Leben auf dieser Basis zu gestalten.
Selbststeuerung: Leben gegen den Strom
Selbststeuerung ist ganzheitliche Selbstfürsorge und besteht in der Kunst, auf Impulse differenziert reagieren zu können. Sie besteht in der Fähigkeit, einem Impuls sowohl unmittelbar nachgeben zu können als auch in der Lage zu sein ihn zu kontrollieren und zwischen beiden ein ausbalanciertes Verhältnis herzustellen. Diese Fähigkeit muss gelernt werden.
Die Entwicklung des menschlichen Gehirns wird heute sehr stark gestört, z.B. bereits im frühen Kindesalter durch Vernachlässigung, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, aber auch im Erwachsenenalter.
„Wir beobachten das Gefühl, der Einzelne sei unwichtig geworden“, antwortete Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands in einem Interview auf die Frage, woher denn das Misstrauen komme, das derzeit an so vielen Orten und in so vielen Debatten anzutreffen ist. Müller setzt sich dafür ein, dass sich Verbraucher sicher und ernst genommen fühlen und fordert dazu entsprechende Gesetze. Dabei lässt er außer acht, dass das Problem aber auf einer viel tieferen Ebene liegt, nämlich wie unsere Erfahrungen unser Denken und Fühlen prägt.
In der Konsumwelt spiegeln sich Enttäuschungen und ein Ohnmachtsgefühle lediglich wider. Unser Konsumverhalten wird oftmals gesteuert von einer fehlgeleitete Bedürfnisbefriedigung, die zudem häufig mit einer eingeschränkten Fähigkeit zur Selbstkontrolle einhergeht. Wesentlich verstärkt werden diese Gefühle vor allem durch Dauerstress, finanzielle und existenzielle Sorgen sowie durch die zunehmende Auflösung Halt gebender sozialer Strukturen.
Wir wissen, dass ungezügeltes Konsumverhalten selten unsere wirklichen Bedürfnisse befriedigt. Die biologisch verankerten Grundbedürfnisse wie gute Nahrung, ausreichend Schlaf- und Erholungsphasen, genügend Bewegung, soziale Verbundenheit und körperliche Zärtlichkeit einschließlich Sexualität bleiben oft unbefriedigt, ebenso viele kulturellen Bedürfnisse. Statt dessen werden sie durch krank machende Nahrung, zu viel Süßigkeiten, zu hohem Fleischkonsum, Alkohol-, Medikamenten- oder anderem Drogenkonsum sowie zu hohen Medienkonsum abgefüttert. Es entsteht eine Spirale von Unzufriedenheit und Ersatzbefriedigung, die für immer mehr Menschen suchtartigen Charakter annimmt.
Doch nicht nur das kompensatorische Verhalten hindert Menschen daran, sich gegen die krank machenden Verhältnisse aufzulehnen. Dieses Verhalten schwächt die Fähigkeit zur Selbstkontrolle oder setzt sie sogar ganz außer Kraft. Der Hirnforscher Joachim Bauer hat nachgewiesen, dass diese ungeeigneten Ersatzangebote den Präfrontalen Cortex einschläfern, das ist der Bereich im Gehirn, der für die Selbstkontrolle zuständig ist. Das bedeutet: wir fressen uns dumm und unmündig.
Doch anstatt die Ursachen des Stresses – die krankmachenden Arbeits- und Lebensbedingungen, zu verändern, flüchten sich viele Menschen in gesundheitsschädliche Ersatzbefriedigungen.
Aber wir sind nicht willenlos und können uns jederzeit aus dem Teufelskreis befreien, wenn wir es wollen. Es gibt viele Menschen, die sich ohne fremde Hilfe kraft ihres Willens aus suchtartigem Verhalten befreit haben.
Ein Mensch, der sich selbst gut steuern kann, hat gelernt, nicht unbedingt das Naheliegende, Bequeme oder Konventionelle zu tun, sondern auch zugunsten eines längerfristigen Ziels (eventuell kurzfristigen) Verzicht zu leisten und ungewohnte Schritte zu gehen.
Dieses Abwägen ist allerdings nicht einfach, wie wir alle wissen, denn unsere Wahrnehmung ist durch falsche Vorstellungen von uns und der Welt getrübt, und unser Geist ist allzu häufig sehr unruhig. Dies hat schon die Yogis und Yoginis vor zweieinhalb tausend Jahren beschäftigt; heute wird diese Unklarheit noch verstärkt durch die allgegenwärtigen Angebote zu mehr Bequemlichkeit und einer Lebensweise, die nur noch ihren Sinn in Konsum zu finden glaubt sowie die Ablenkung durch die neuen Medien. Als Folge tritt eine tiefgreifende Erschöpfung ein.
Diese Erschöpfung spüren wir auch bei unseren Yoga-KursteilnehmerInnen. Immer mehr Menschen kommen heute zu uns, weil sie unter Burn-out leiden. Sie benötigen mehr als nur Entspannung. Sie suchen Unterstützung auf dem Weg zu einem gesünderen Lebensstil, der ihren Bedürfnisse entspricht. Viele suchen wieder die Verbindung mit sich und mit der göttlichen Kraft. Mit einem Yoga-Unterricht, der die TeilnehmerInnen ermutigt, sich wieder zu spüren, ihre Gefühle ernst zu nehmen und ihre tiefliegenden Bedürfnisse zu erkennen, geben wir ihnen ihre Handlungsfähigkeit zurück und fördern ihre Selbstständigkeit. Wie kann das im Yoga-Unterricht gelingen?
Wir lernen, einen freien Willen zu entwickeln, indem wir mehrere Fähigkeiten einüben: Ziele zu setzen, Handlungen zu planen, konzentriert bei der Sache zu bleiben, unsere Aufmerksamkeit zu steuern und mehrere aktuell relevante Dinge gleichzeitig im Bewusstsein präsent zu halten. „Diese Fähigkeiten, die (…) exekutiven Funktionen, sind die entscheidenden Werkzeuge des freien Willens. Ihr neurobiologischer Werkzeugkasten ist der Präfrontale Cortex. Ein besonders übler Saboteur der freien Willensentscheidung ist die fehlende Impulskontrolle. Wer auf jeden Reiz reagieren muss, auf jede Provokation in Zorn gerät und keiner Versuchung widerstehen kann, dessen Verhalten ist auf Reiz-Reaktionsabläufe reduziert“, betont Bauer. Ein solcher Mensch ist leicht zu manipulieren.
Mit Yoga können wir die Fähigkeiten zur Selbststeuerung einüben. Ich möchte an einigen Beispielen aus dem reichhaltigen Repertoire des Yoga zeigen, wie diese exekutiven Funktionen im Yoga-Unterricht trainiert werden können. Wenn wir die Yoga-Übenden anhalten, vor der körperlichen Ausführung einzelne Yoga-Abläufe zu visualisieren, stärken sie ihre Konzentrationsfähigkeit und ihre Fähigkeit zu planen. Komplexere Bewegungsabläufe helfen, konzentriert bei der Sache zu bleiben. Wenn wir Hinweise geben, worauf die Yoga-Übenden ihre Aufmerksamkeit lenken sollen, beispielsweise auf das Fließen der Atemluft in den Nasengängen oder die Bewegung des Atmens im Brustkorb, so können sie lernen, ihre Aufmerksamkeit zu steuern, anstatt sich immer wieder von äußeren Reizeinflüssen ablenken zu lassen. Wenn wir unsere SchülerInnen anhalten, die Körperbewegungen untereinander und mit ihrem Atmen zu koordinieren, so lernen sie mehrere aktuell relevante Dinge gleichzeitig im Bewusstsein präsent zu halten, anstatt sich von ihrem Ziel abbringen zu lassen. Entspannende Abläufe, zum Beispiel durch die Verlängerung des Ausatmens, helfen Stress abzubauen. Durch das sinnvoll geplante Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung und dazu gehörige ausgleichende Übungen können wir unseren Organismus trainieren, flexibel auf Stresssituationen zu reagieren und wieder zu entspannen, wenn die Anforderung vorbei ist. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Übungen, um Körper und Geist zu reinigen und vielfältige Meditationsübungen, um sich wieder zu zentrieren, geistig und emotional klar zu werden. Aber die wichtigste Fähigkeit besteht darin, die Verbindung mit dem eigenen göttlichen Wesenskern, die Verbundenheit mit allen Lebewesen und mit der Geistigen Welt zu spüren. Sie schließt alle anderen Kompetenzen ein.
Ein Yoga-Unterricht, der diese Fähigkeiten einüben hilft, trägt wesentlich zu einer menschlicheren Welt und einem liebevolleren und gerechteren Miteinander bei.
„Sei du selbst die Veränderung, die du dir in der Welt wünschst.“ (Mahatma Gandhi)
Ulrich Fritsch,
Politik- und Geisteswissenschaftler, Referent, Yogalehrer BDY/EYU
Lich 2.5.2017
Lesetipps: Joachim Bauer, Selbststeuerung,
Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten