Dem Hass entgegentreten

Newsletter, 30.1.2024

Liebe Yoga-Interessierte,

dem Hass entgegentreten

ist ein Grundanliegen des Yoga. Denn Hass, Gier und Verblendung zählen im Yoga zu den Hauptursachen für persönliches Leiden. Yoga ist wie kaum ein anderes Übungskonzept geeignet, Denkweisen entgegenzutreten, die gegen die freie Entfaltung von Menschen gerichtet sind. Denn Freiheit ist das Ziel des Yoga! Freiheit von Leiden, Freiheit von vorgefassten Konzepten, die wir zwischen unsere Wahrnehmung und das Wahrzunehmende schieben, Freiheit von Zuordnungen, die uns oder andere einschränken, Freiheit von Hass, Gier und Verblendung.

Eine Yoga-Praxis kann auf unterschiedlichen Ebenen dem Hass entgegentreten. Das emanzipatorische Potenzial des Yoga kann das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeit stärken. Damit wird zugleich die Basis für solidarisches Handeln gelegt. Die Verfeinerung der Aufmerksamkeit und ein geschultes Körpererleben fördern eine differenzierende Wahrnehmung und unterlaufen vorgefasste Konzepte.

Vorgefasste Konzepte sind immer ungenau. Hass und Gewalt werden erst durch pauschalisierende Kategorien möglich. Dann verschwindet der einzelne Mensch mit seinen Eigenheiten in einem Nebel von Zuordnungen, die ihn entmenschlichen und zu einer Sache herabstufen.

„Gehasst wird ungenau. Präzise lässt sich nicht gut hassen. Mit der Präzision käme die Zartheit, das genaue Hinsehen oder Hinhören, mit der Präzision käme jene Differenzierung, die die einzelne Person mit all ihren vielfältigen, widersprüchlichen Eigenschaften und Neigungen als menschliches Wesen erkennt“1, schreibt die Philosophin und Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 2016, Carolin Emcke. Und weiter: „Sind die Konturen aber erst einmal abgeschliffen, sind Individuen als Individuen erst einmal unkenntlich gemacht, bleiben nur noch unscharfe Kollektive als Adressen des Hasses übrig, wird nach Belieben diffamiert und entwertet, gebrüllt und getobt: die Juden, die Frauen, die Ungläubigen, die Schwarzen, die Lesben, die Geflüchteten, die Muslime oder auch die USA, die Politiker, der Westen, die Polizisten, die Medien, die Intellektuellen. Der Hass richtet sich das Objekt des Hasses zurecht.“

Hass braucht einen Boden, in dem seine Saat aufgehen kann. Hass braucht vorgeprägte Muster, in die er sich ausschüttet, vorgeformte Begriffe, in denen gedemütigt, Assoziationsketten und Bilder, in denen gedacht und sortiert wird. Die Raster der Wahrnehmung müssen bereits vorgeformt sein, in denen dann kategorisiert und abgeurteilt werden kann, erläutert die Friedenspreisträgerin.

Sich der eigenen Raster bewusst zu werden, sich genau zu beobachten, sich genau zu spüren, seine Mitwelt differenziert wahrzunehmen, die eigenen Kategorien kritisch zu überprüfen, sind Ziele im Yoga und Mittel zur Freiheit. Es sind dieselben Mittel, mit denen dem Hass begegnet werden kann: „Dem Hass begegnen lässt sich nur durch das, was dem Hassenden abgeht: genaues Beobachten, nicht nachlassendes Differenzieren und Selbstzweifel“2, schreibt Emcke.

Doch es geht nicht nur darum, sich selbst wahrzunehmen. Im Yoga geht es auch darum, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, nicht mehr selbst im Mittelpunkt zu stehen, sondern seine Verwobenheit in die Mitwelt zu erkennen. Dazu benötigen wir eine innere Haltung, in der wir feinfühlig spüren und zugleich distanziert beobachten. „Die fehlende Distanz zwischen dem, was wahrnimmt und dem, was wahrgenommen wird, führt zu Leid“, finden wir in Patanjalis Yoga-Sutra 2.17. Wenn wir in unserer Yoga-Praxis unser Körpergefühl verfeinern und zugleich einüben, distanziert und differenziert wahrzunehmen, bevor unser Verstand beurteilt, dann bilden wir Kernkompetenzen aus, die unabdingbar sind, um Hass und jedweder Form von Gewalt und Zerstörung entgegenzutreten. Wenn ich mich in einen anderen Menschen einfühle, erlebe ich seine Vielseitigkeit. Dann kann ich die vorgefasste Meinung, die ich mir über diesen Menschen gemacht habe, zerbrechen und auflösen. Vielleicht besteht die wichtigste Erfahrung darin zu spüren, wie ich als Individuum mit allen anderen Lebewesen in einem Netz von Beziehungen verwoben bin. Dann wird Einfühlen möglich.

Wenn ich die Wahrnehmung gegenüber dem Eingebunden-Sein in die Mitwelt einübe und verfeinere, dann rückt der Andere, mit dem ich verbunden bin, in den Blick. Ebenso kann das andere, nicht-menschliche Lebewesen aus dem Tier- und Pflanzenreich in den Fokus meiner Aufmerksamkeit treten. Dann kann ich dieses Lebewesen sehen, erkennen und anerkennen. Hass und andere Formen der Zerstörung setzen oft das Verkennen des Anderen voraus.

Vielleicht besteht die größte Gefahr, wenn wir mit Hass konfrontiert sind, darin, dass wir selbst zu hassen beginnen. Zum Beispiel die Person, die mich mit ihrem Hass überzieht. Gerade dann ist es notwendig, sich selbst gegenüber kritisch zu begegnen, sich selbst gegenüber eine beobachtende Haltung einzunehmen und sich nicht von der Angst lähmen zu lassen, sondern sie abzubauen, indem wir tief durchatmen und wieder entspannen und einfühlsam bleiben.

Manchmal ist es aber auch notwendig, mit anderen Menschen zusammen dem Hass entgegenzutreten. Weil die Ursachen des Hasses nicht bereits dadurch beseitigt werden, dass ich mich als Individuum gegenüber dem Hass immunisiere.

Mit anderen zusammen dem Hass entgegenzutreten wird spätestens dann notwendig, wenn andere Menschen sich anschicken, meine Freiheit oder die meiner Freunde oder Mitmenschen einzuschränken. Immer wieder muss ich an das Zitat des evangelischen Theologen Martin Niemöller denken:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

In diesen Tagen bildet sich ein breites Bündnis von Menschen, die sich für den Erhalt von Demokratie und Menschenwürde einsetzen. Mehrt als eineinhalb Million Menschen in ganz Deutschland haben bisher gegen den Rechtsruck demonstriert. Das finde ich sehr ermutigend.

Auch in Lich wird es am Sonntag, den 4.2.24 um 14.00 Uhr auf dem Kirchplatz in der Stadtmitte eine Kundgebung geben: „Lich steht auf! Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dazu rufen alle im Parlament vertretenen Parteien und Listen auf, verschiedene Kirchengemeinden, Kultureinrichtungen, zahlreiche Vereine, Verbände und Unternehmen. Den Aufruf füge ich im Anhang diesem Newsletter bei. Vielleicht sehen wir uns am Sonntag auf dem Kirchplatz.

Herzliche Grüße,

Ulrich Fritsch

1Carolin Emcke, Gegen den Hass, Frankfurt 2016, S. 12

2Carolin Emcke, Gegen den Hass, 2016, S. 18