Newsletter, 3.April 2020
Thema: Die ethische Grundlage des Yoga
Liebe Yogainteressierte,
der indische Premierminister Narenda Modi animiert seine 1,3 Milliarden Landsleute dazu, sich während der strikten Ausgangsbeschränkungen wegen der Coronapandemie die Zeit mit Yoga zu vertreiben.
Er selbst übt zweimal die Woche Yoga und schreibt auf Twitter: „Yoga zu praktizieren ist seit vielen Jahren ein fester Bestandteil meines Lebens, und ich habe es als gut für mich empfunden.“ Regelmäßig turnt er auf YouTube Yoga-Haltungen vor zum Nachmachen.
Man könnte sich über soviel Unterstützung für Yoga freuen, hätte sie nicht einen fahden Beigeschmack. Denn wenn man Modis nationalistische Politik anschaut, z.B. wie seine Hindu-Partei gegen Minderheiten, besonders gegen Muslime, hetzt, kommen einem Zweifel. Vom Geist des Yoga ist hier jedenfalls nichts zu spüren.
Einfach nur irgendwelche Yoga-Haltungen einzunehmen führt offensichtlich nicht automatisch zu einem toleranten Verhalten, das von Liebe und Mitgefühl geprägt ist.
Aber wie sieht denn die Ethik des Yoga denn überhaupt aus?
Yoga und Ethik
Yoga ist bei uns im Westen als ein weltliches Übungssystem bekannt und kann mit diesem Verständnis auch mit großem Nutzen geübt werden. Bereits die heilgymnastische Wirkung ist anerkanntermaßen gesundheitsfördernd und hat in unserer Medizin als Prävention mittlerweile einen festen Platz. Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bemühen sich zahlreiche Yogalehrende im Westen, auch den spirituellen Gehalt für unser Leben herauszuarbeiten.
Traditionell ist Yoga ein spirituelles Übungssystem. Im Mittelpunkt der steht die Pflege der mentalen Verfassung und die Anbindung an die Kraft, die die Welt im Innersten zusammenhält.
Ob man diese Kraft nun „Gott“, „Allah“, „Mutter Erde“ oder „Kosmische Energie“ nennt, ist dabei unerheblich. Vielmehr geht es im Yoga darum zu spüren und bewusst zu erleben, dass wir alle miteinander und mit allen Lebewesen ständig verbunden sind und von der Kraft des Lebens getragen werden.
Wenn man sich dieser Verbindung bewusst ist und sie auch leiblich fühlt, ist man wahrlich „von guten Mächten wunderbar geborgen“, wie Dietrich Bonhoeffer es formulierte. Mehr braucht es nicht, um ein zufriedenes und glückliches Leben zu führen, denn man befindet sich im Vertrauen und im Einklang mit sich, der sozialen Umgebung und der Natur. Alles andere ergibt sich dann wie von selbst.
Aber wir sind uns der Verbindung mit allem Lebendigen oftmals nicht mehr bewusst und haben das Gespür dafür vernachlässigt. Die Erfahrung des Yoga besteht darin, dass man dieses Bewusstsein wieder herstellen kann, wenn man einen ausgeglichenen Gemütszustand herstellt und wenn man seinen klaren Verstand kultiviert. Auf dieser Grundlage kann man sich selbst und seine Qualitäten erkennen und seinen angemessenen Platz im Leben und im Einklang mit der Natur finden.
Die Yogaübungen beziehen sich jedoch nicht nur auf das Gemüt, sondern – weil damit untrennbar verbunden – auch auf den Leib. Es ist wichtig, den eigenen Körper zu spüren, denn unser Körper spürt und erkennt Dinge, die unser Verstand nicht begreifen kann.
Die Verbindung mit den Kräften des Lebens wird im Yoga nicht über einen Glauben (wie es die christlichen Kirchen fordern) hergestellt, sondern als sinnliche Erfahrung im Leib gefühlt! Das schließt den Glauben an Gott nicht aus, sondern kann diesen Glauben ergänzen. Damit ist Yoga weltanschaulich neutral, aber keineswegs beliebig.
Statt moralischer Vorschriften, wie wir sie im Christentum kennen, gibt es im Yoga ethische Empfehlungen, die sogenannten Yamas und Niyamas. Sie umfassen Vorschläge im Umgang mit anderen Menschen(Yamas) und mit sich (Niyamas). Es sind Empfehlungen mit dem Ziel, ein glückliches und von Leid freies Leben zu führen. Dahinter steht die Vorstellung, dass jedes Denken und Verhalten auch Folgen für die handelnde Person hat und man mit seinem Denken und Handeln die Ursachen für spätere Umstände legt, die man erleben wird. Diese Folgen können sogleich, bald oder in ferner Zukunft eintreten.
Yoga stellt die Selbstverantwortung in den Mittelpunkt. Yoga ist bestrebt, den Menschen in die Lage zu versetzen, selbstverantwortlich zu handeln. Dementsprechend gibt es im Yoga keine strafende Instanz, die Fehlverhalten sanktioniert, sondern die Yoga übende Person ist angehalten, im eigenen Interesse den Empfehlungen zu folgen nach dem Motto: Handle stets so, wie Du gerne hättest, dass Du behandelt wirst. (Man fühlt sich an den Kategorischen Imperativ Immanuel Kants erinnert, auf dem unsere westliche Ethik beruht: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“.)
Die ethischen Richtlinien des Yoga in Bezug auf unsere Haltung gegenüber unserer Umgebung lauten:
1. nicht verletzen, d.h. es wird empfohlen, überlegt und behutsam mit allem was lebt umzugehen,
besonders mit Lebewesen, die hilflos sind oder die sich in Schwierigkeiten befinden und
Mitgefühl zu entwickeln;
2. die Wahrheit sagen, d.h. sich aufrichtig zu verständigen durch Sprache, Gesten und Handlungen;
3. nicht stehlen, d.h. die Fähigkeit zu entwickeln, sich von dem Wunsch zu lösen nach Dingen, die
einem nicht gehören und Großzügigkeit zu entwickeln;
4. aus dem Gefühl heraus handeln, dass man verbunden ist mit allen Lebewesen;
5. nicht horten, d.h. die Fähigkeit zu entwickeln, sich auf das zu beschränken, was man braucht und
nur das zu nehmen, was einem zusteht (z.B. nicht auf Kosten zukünftiger Generationen zu leben).
Hinter diesen Empfehlungen steht die Vorstellung, dass wir Menschen nicht Spielball fremder Mächte sind, die, z.B. durch Opfergaben, besänftigt werden müssen, sondern dass wir unser Schicksal selbst in der Hand haben. Ein Kernsatz im Yoga lautet: „Zukünftiges Leiden kann vermieden werden.“ (YogaSutra, Patanjali) Wenn ich verstanden habe, dass ich mit meinem Denken und Handeln jetzt die Ursachen dafür lege, was mir später widerfahren wird, habe ich es in der Hand, meine Zukunft zumindest mitzugestalten. („Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus.“) Was wir letztlich erleben werden, ist abhängig von vielerlei Umständen, denn wir sind eingeflochten in ein Netz mit unzähligen Lebewesen, die alle aufeinander einwirken. Logischerweise ist das, was uns widerfahren wird, auch abhängig davon, welche Ursachen wir in der Vergangenheit gelegt haben, deren Wirkung wir nun erleben. Heute erleben wir am Beispiel des Klimawandels diesen Zusammenhang von Ursache und Auswirkung besonders deutlich.
Yoga behauptet, dass es möglich ist, ein Leben zu führen, ohne unter den Herausforderungen, die das Leben stellt, zu leiden. Möglicherweise habe ich Schmerzen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich darunter leiden muss. Eine geeignete Yogapraxis verhilft dazu, auch mit den widrigsten Umständen zurecht zu kommen.
Eine Übungspraxis wird erst dann zur Yogapraxis, wenn sie geeignet ist, diese ethischen Qualitäten im übenden Menschen hervorzurufen. Sonst ist die Übungspraxis eine schöne Form von Edelgymnastik. Oder verkommt zur Ideologie, wie bei dem indischen Premierminister Modi.
Abschließend geht es im Yoga nicht darum, all das, was ich oben geschrieben habe, zu glauben, sondern durch eine eigene regelmäßige Übungspraxis zu überprüfen.
In diesem Sinn wünsche ich Euch ein frohes Üben und kommt gut durch diese außergewöhnliche Zeit.
Herzliche Grüße,
Ulrich Fritsch